Konstruktivismus in Psychiatrie und Psychologie. Delfin 1998/99.
Herausgegeben von Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt
Taschenbuch - 235 Seiten - Suhrkamp, Ffm.
Erscheinungsdatum: 2000, Preis: 24.90 DM, ISBN: 3518291033
Einführung von Siegfried J. Schmidt (Münster)
Auszug S. 15-16:
2. Wenn von Konstruktion und Konstruktivismus gesprochen wird, dann fällt wohl kein Name eines klassischen Philosophen so oft wie der I. Kants. Aber die Bezugnahmen auf sein Werk, meist vorgenommen in legitimatorischer Absicht oder im Bestreben, eine Ahnenreihe konstruktivistischer Denker zu konstruieren, bleiben meist seltsam oberflächlich und beschränken sich auf wenige Zitate.
In dieser Situation bietet Marco C.Bettonis konstruktivistische Interpretation von Kants Kognitionstheorie eine begrüßens- und höchst lesenswerte Ausnahme. Bettoni liefert ein sehr sorgfältiges Re-Reading des Zentrums der »Kritik der reinen Vernunft«, nämlich der »Analytik der Begriffe«, vorgeführt im interpretatorischen Rahmen des italienischen Operationalismus S. Ceccatos sowie des Radikalen Konstruktivismus E. von Glasersfelds. Die Interpretation arbeitet zehn Prinzipien heraus, die als Kern des Kantischen Modells der kognitiven Funktionen angesehen werden können. Diese Prinzipien zeigen, dass bei Kant zentrale Begriffe wie >Objekt<, >Wahrheit<, >Realität< oder >Objektivität< neu konzipiert werden, und zwar in Richtung der Annahme, dass sich im kognitiven Prozess die Gegenstände nach den mentalen Funktionen richten und nicht umgekehrt. Damit kommt Kant zum gleichen Ergebnis wie Ceccato und von Glasersfeld: Die Realität liefert das Material, aus dem kognitiv und emotional Erfahrungswirklichkeiten produziert (konstruiert) werden. In meiner Erfahrungswirklichkeit ist nur das objektiv, was ich als objektives Konstrukt herstelle, und objektive Konstrukte sind wahr, insofern sie sich beim Vergleich mit meinen übrigen objektiven Konstrukten bewähren. Für diesen Prozess hatte J. Piaget die klassische Formel gefunden, dass der Verstand die Welt organisiert, indem er sich selbst organisiert. Gezeigt und nicht nur behauptet zu haben, dass Kant exakt dieselbe Einsicht entfaltet hat, ist das Verdienst Bettonis, das die Kant-Forschung sicher beeinflussen wird.
© 2000, Marco C. Bettoni - 31.10.01 - 31.10.01