Dialog über Wissenstheorie
Replik Ernst von Glasersfelds auf das Gespräch A;
Veröffentlicht in: Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), 9 (1998) 4, S. 582-583.
Marco - geschätzter Freund - so ich des Ikarus Flügel hätte, wäre ich bereits bei Dir, um Dir den Dienst zu danken, den Du mir mit Deinen Erklärungen im Gespräch mit den Peripatetikern Rolf und Robert erwiesen hast. Da Du in Deiner Heimatstadt Abdera wohl des öfteren mit ihren berühmten Spießbürgern zu unterhandeln hast, verstehst Du es besser als ich, verzweigte, holperige Gedankenwege in glatte Pfade zu verwandeln. Daß selbst Dir bei meinem Geschreibsel Fragen auftauchen, wird keinen wundern, der je versucht hat, meiner oft unbeholfenen Ausdrucksweise klaren Sinn zu entnehmen.
Deine Frage (BETTONI (12)), wie weit Begriffskonstruktion analysiert werden müßte, um ihre Mechanisierung in Artefakten zu gewährleisten, will ich zu beantworten versuchen. Wenig Hoffnung, jedoch dünkt mich, wird meine Antwort eröffnen. (Beim Zeus, ich würdes lieber mündlich tun, im Schatten der Platanen am Ufer des Ilissos! Doch der Flug von jenseits Atlantis, wo ich derzeit mein Leben friste, ist unerschwinglich. Drum muß ich mich notgedrungen mühsamer Schrift bedienen, obgleich mir einige der Kritiken offenbart haben, wie verfänglich Geschriebenes ist, da alles Lebendige mit der Tinte vertrocknet.)
Doch wohlan - auch Troja wurde nicht in einem Tag besiegt! Wie unser nun in der Geisterwelt weilende Freund Silvio es sah, ist auch für mich das eigentlich genetische Prinzip in der Begriffsbildung das, was wir gemeinhin Aufmerksamkeit nennen - doch nicht, wie sie zumeist vorgestellt wird, als Scheinwerfer, der eine Landschaft beleuchtet, sondern als pulsierender Strahl, der einzelne Elemente im formlosen Meer der Efahrungsmöglichkeiten aufleuchten läßt und durch die eigene Bewegung verbindet. Trefflich hat der Königsberger Weise dieses Meer "das Mannigfaltige" genannt, eben weil die Aufmerksamkeit in jedem Augenblick auch andere Elemente aufleuchten lassen könnte. Das Geheimnis, teurer Freund, liegt in der Wahl und der Verwirklichung der ausgewählten Elemente. Die Nelken, die ein wohlerzogener Gast jüngst meiner Gefährtin schickte, sehen wir rot - doch was sollte Rot sein, bevor wir schauen? Die elektrochemischen Impulse, von denen die Erforscher unserer Gehirne sprechen, sind gewiß nicht rot, noch sind es die Photonen oder die unsichtbaren Wellen, die Physiker je nach den Umständen zur Erklärung der Lichtphänomene heranziehen. Farben und Töne, so meine ich wie viele vor mir, entstehen in uns; und die Bewegung unserer Aufmerksamkeit schafft die Beziehungen und Formen.
Homer hätte gesagt, es seien Athena, Aphrodite und Ares, die jeweils unsere Aufmerksamkeit leiten, doch diese Vertreter göttlicher Vorsehung lassen sich auch heute kaum mechanisieren. Mir liegt seit jeher daran, die Götter aus dem Spiel zu lassen und alles Ontische als unergündlich zu betrachten. Drum nenne ich die Instanz, die die Ergebnisse der Aufmerksamkeit zu unserer Wirklichkeit macht, Bewußtsein. Freilich ist mir klar, daß das nicht minder geheimnisvoll ist, als die Absichten der Unsterblichen, doch es klingt mir neutraler. Die Wissenschaft, dünkt mir, versucht allenthalben Mysterien auf Verständliches zurückzuführen, doch ganz ohne Mysterium kommt sie nirgends aus. Ich sehe nicht, warum es mit unserem Wissen anders sein sollte. Doch der Versuch, das Geheimnisvolle auf ein Minimum zu reduzieren, scheint mir in allen Sparten der Mühe wert. Darum sehe ich, geschätzter Marco, den Versuchen, die Du und Deine Freunde unternehmen, das Wissen in Artefakten zu mechanisieren, mit Wohlwollen und Erwartung entgegen.
©1999, Marco C. Bettoni, FHBB - 11.01.99 - 08.11.01