ETH Zürich - Umweltnaturwissenschaften - Gesellschaft und Ökologie - Vortrag 7. 1. 1999
Ich modelliere meine Erfahrung, nicht die unabhängige RealitätMarco C. Bettoni
[Vorbemerkung: der nachfolgende Text enthält die Abschrift der Tonbandaufnahme ergänzt mit nachträgliche Kommentare, die zur besseren Unterscheidung in eckigen Klammern und kursiv geschrieben sind]
I. Persönliche Vorstellung
Mein Name ist Marco Bettoni, ich habe hier in diesem ETH Gebäude meine erste Stelle gehabt, vor ca. 20 Jahren war ich Assistent am Institut für Mess- und Regeltechnik [1977-1978]. Ich hatte zuvor an der ETH abgeschlossen als Maschineningenieur, aber ich war nicht sehr glücklich mit der Praxis des Maschineningenieurs und habe mich sehr bald in Richtung EDV beruflich weiterentwickelt. Heute bin ich als Dozent an der Fachhochschule beider Basel tätig und unterrichte dort Künstliche Intelligenz, besser gesagt einen Teilgebiet der KI, das sind wissensbasierte Systeme und Expertensysteme. Zu meinen Hauptaufgaben gehören die angewandte Forschung und Entwicklung sowie die Beratung in den Bereichen Expertensysteme und Wissensmanagement. Trotz dieser ingenieurmässigen Tätigkeit gilt mein Hauptinteressen den Humanwissenschaften - das ist vielleicht ein Widerspruch ... - und mein Hauptthema heisst hier "menschliche Intelligenz", wie funktioniert das Vermögen der Kognition. Bereits 1980, ca. drei Jahre nach dem Abschluss des Studium habe ich angefangen mich mit einer italienischen Schule der Kognitionswissenschaften zu befassen und hauptsächlich versucht die Ideen des 'Meisters' dieser Schule, Silvio Ceccato, zu verstehen, weiterzuentwickeln und vor allem, da es ein sehr revolutionäres Modell ist, war meine Idee, dass meine Aufgabe darin liegen sollte zuerst Ceccato's Modell der mentalen Tätigkeit einer breiteren (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit bekannt zu machen und zur Diskussion zu stellen. In der Tat wird in den Forschungszentren Ceccato's Modell kaum rezipiert.
Auf diese Weise bin ich also1980 in die Kognitionswissenschaften
eingestiegen und habe dann im Laufe der Zeit gesehen, dass Ceccato's Modell eine
systematischere Grundlage gut brauchen könnte. Diese habe ich ca. 1988 bei Kant gefunden
und habe mich in den folgenden Jahren intensiv mit der "Kritik der reinen
Vernunft" auseinandergesetzt, aber nur mit einem kleinen, wenn auch entscheidenden
Teil davon. Jedenfalls bin kein Kant-Spezialist. So wie ich Kant lese finde ich, dass es
sich dabei nicht um den Kant handelt den Sie vielleicht aus der philosophischen Literatur
kennen. Es ist auch nicht derjenige Kant der von seinen Anhänger und Gegner propagiert
wird, sondern das ist mein Kant. Und das ist Kant aus
konstruktivistischer Sicht interpretiert. Bei dieser Interpretation gehe ich aber
nicht beliebig vor [wie häufig dem radikalen Konstruktivismus vorgeworfen wird]
sondern fordere, dass meine Interpretation systematisch sein muss und dass sie begründet
sein muss, dass das Ganze der Interpretation stimmig sein muss, also kohärent. Das ist
die Vorschrift, die ich mir auferlege, es ist nicht eine beliebige Interpretation, aber es
ist meine persönliche; vielleicht wäre Kant damit nicht einverstanden, leider kann ich
das nicht überprüfen. Das wichtigste für mich ist, dass ich mit dieser Art zu denken
weiter komme und mich meinem Ziel nähere; das Ziel meiner ganzen Anstrengung ist dazu
beizutragen, dass wir Menschen für das Denken, dass wir hervorbringen
Verantwortung übernehmen. Das in kurz gesagt der Zweck meiner Reflexion im
Bereich der Kognitionswissenschaften.
II. Vortrag
Ich habe da genug Material für einen ganzen Semester, aber ich werde mich bemühen die Zeit von 45' einzuhalten. Der Titel meines Vortrags wurde von Dr. Schütz gewählt und ich fand es sehr schön, dass er diesen Satz aus meinen Web-Seiten als Titel übernommen hat. Mein Programm für heute Nachmittag sieht folgendermassen aus: ich möchte mit einer Betrachtung des Modellierens anfangen und dann die Frage stellen "was ist das Original ?". Danach werde ich die Fundamentalaufgabe der Wissenstheorie besprechen und erläutern wie diese Fundamentalaufgabe im herrschenden Paradigma gelöst wird sowie welche Probleme ich dabei sehe. Zum Schluss möchte ich die Frage diskutieren warum das heute herrschende Paradigma herrschend ist sowie die Alternative an der ich arbeite, das "attentional quantum model" kurz skizzieren.
1. Modellieren
Zunächst also das Modellieren. darunter verstehe ich, dass ich mir ein Denkmodell
mache, also nicht ein Modell im Sinne einer verkleinerten materiellen Kopie eines
Gegenstands, sondern im Sinne eines mentalen Modells. Das Wort Modell kommt aus dem
italienischen Wort "modello" und interessanterweise kann es sowohl ein Vorbild
als auch ein Abbild bedeuten. Als Vorbild bezeichnet es ein Beispiel, eine Art Paradigma,
gemäss dem etwas geschaffen werden soll. Im Merriam Webster habe ich 13 verschiedene
Bedeutungen gefunden, darunter auch z.B. Art eines Produkts ("das neuste
Modell"), Mannequin, usw. Im Duden gibt es verschiedene Bedeutungen wie z.B. Modell
für eine Romanfigur, Modell von Armani, oder dass man etwas nach einem Modell organisiert
oder einrichtet, also auch wieder ein Vorbild. Es gibt aber im Duden auch eine Bedeutung
von Modell als "ein innere Beziehungen und Funktionen von etwas abbildendes bzw.
schematisch veranschaulichendes und vereinfachendes, idealisierendes Objekt oder
Gebilde" und das kommt eher in die Richtung der Bedeutung die ich verwenden möchte.
Meine Modelldefinition lautet: die Vereinfachung eines Originals, in der Form
eines Systems von Wissenselementen. Vereinfachung durch Absondern, durch Trennung
gewisser Elemente die man betrachten will von denen die man nicht betrachten will. Und das
ist in der herrschenden Wissenschaftstheorie kaum umstritten, also dass man vereinfachen
kann durch Absonderung, durch Abstraktion, durch das Weglassen.
Die Behuptung "Ich modelliere meine Erfahrung, nicht die unabhängige Realität" ist für mich ein Ergebnis zu dem ich gekommen bin über verschiedene Erfahrungen, seit der Kindheit wo ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Erwachsene nicht verstanden haben, was ich ausdrücken wollte, und damals gedacht habe "wenn ich dann gross bin werde ich den Erwachsenen erklären was ich als Kind sagen wollte" - jetzt weiss ich aber nicht mehr, was ich damals ausdrücken wollte, und verstehe meine kleine Tochter wahrscheinlich auch nicht. Später in der Schule in Italien (ich komme aus der Provinz Mailand) aber auch hier an der ETH, hatte ich das Gefühl, dass etwas im Fundament des Wissens das vermittelt wird, nicht stimmen würde. Während des Studiums hatte ich mich in einer selbstverwalteten Schule für Emigirerte (SPE Zürich, gegründet 1974) engegiert und zum ersten Mal unterrichtet. Hier habe ich versucht mein Unterricht nach einer Vorstellung darüber, wie das Denken der Schüler funktioniert zu gestalten. All die Reflexionen die diese Erfahrungen begleitet haben führten dann dazu, dass ich mich für die Ideen von Silvio Ceccato sehr interessiert habe und versucht habe jene Reflexionen auf wissenschaftlicher Ebene fortzusetzen.
Der Titel meines Vortrags ist also ein Ergebnis aus meinen bisherigen
Erfahrungen mit den Kernprozessen der Kognition (das ist mein Thema); es ist aber auch
Programm für die Zukunft, wo ich verstehen möchte "wie mache ich das ?", z.B.
"wie mache ich das Modellieren ?" oder "Warum scheint diese Annahme absurd,
dass ich meine Erfahrung modelliere und nicht die von mir unabhängige Realität ?"
Denn, dass sie absurd scheint, das bestätigt die herrschende Wissenschaft, wie wir werden
später sehen werden.
2. Original
Zudem ist dieser Satz das Fundament für die Entwicklung meines Modells der Kernprozesse der Kognition. Ursprünglich habe ich es am Anfang eines Vortrags gestellt, dass ich am Institut für Neuroinformatik gehalten habe (12.8.1998). Dort sprach ich im Rahmen eines Seminars wo es um die Entwicklung eines Grundmodells von Kognition geht, das verwendet werden könnte um kognitive Fähigkeiten in Robotern zu implementieren, die fähig sein sollen zu lernen, so dass sie sich ein Modell der Umgebung machen können ohne es vorgefertig eingepflanzt zu bekommen. Im Rahmen jenes Seminars wird viel über Modelle diskutiert und meine Behauptung "I model my experience, not independent reality" habe ich als Voraussetzung und Fundament verwendet. Es ist für mich ein Fundament, weil mir die Frage sehr wichtig ist "Was ist das, was ich modelliere ?", "Wovon mache ich ein Modell ?". In der Literatur spricht man von einem Referent, auf englisch "referent". Zum Beispiel Rothenberg ["The Nature of modeling", in Artificial Intelligence, Simulation and Modeling, L.E. Widman et.al. (eds.), Wiley, 1989] bezeichnet "Referent" als "the first essential attribute of a model: it is of something (its 'referent')". Was ist also dieser Referent eines Modells ? Man könnte in einem Input-Output Schema diese Frage folgendermassen darstellen:
[Bild 1: Was ist das, was ich modelliere ?]Was kommt links hinein ? Modelliere ich "reelle Systeme", oder gegebene "Ursache-Wirkungs-Beziehungen" ?
Norbert Wiener, der sogenannte "Vater der Kybernetik", hat
1945 zusammen mit Arturo Rosenblueth im Aufsatz "The Role of Models in Science"
[Philosophy of Science, 12 (4): 316-321, 1945] folgendes behauptet: "Abstraction
consists in replacing the part of the universe under consideration by a model of similar
but simpler structure.", wobei "abstraction" auch mit "modeling"
ersetzt werden könnte. Da ist der Referent "the part of the universe under
consideration".
3. Fundamentalaufgabe
Die Frage nach dem Referenten eines Modells wird sehr selten bis nie explizit ausgesprochen: so bleibt auch die Fundamentalaufgabe der Wissenschaftstheorie nur implizit gelöst, welche meiner Meinung nach mit dieser Frage eng verknüpft ist und in der Klärung des Verhältnisses zwischen Wissen und Realität besteht. In einer anderen Form ausgedrückt, besteht diese Fundamentalaufgabe in der Klärung des Verhältnisses zwischen Modell und Original oder zwischen Vorstellung und Gegenstand, wie Kant das ausgedrückt hat.
Wenn ich also die Frage nach dem Original des Modells nicht stelle, so kann ich auch die Fundamentalaufgabe nicht explizit sehen und ich werde dann auch die Lösung derselben nur implizit geben, somit nicht in der Lage sein diese Lösung kritisch zu reflektieren.
Dabei spreche ich hier von einer Lösung der Fundamentalaufgabe im Bereich des rationellen Wissens, ich betrachte also das Verhältnis zwischen rationellem Wissen und Realität. Ich bin in dieser Frage nicht so weit gekommen, auch das "meta-rationelle" Wissen zu berücksichtigen, d.h. alles was Mythologie oder Mystik ist. Denn, meine Hauptaufgabe sehe ich im Moment darin, das implizite Verständnis dieser Fundamentalaufgabe im Bereich des Rationellen zu kritisieren und ein explizites Verständnis zu entwickeln aber für den Bereich des Metarationellen habe ich leider nicht genug Ressourcen zur Verfügung. Das ist aber auch sehr wichitg, die Grenzen des rationellen Wissens zu sehen und über dieser Grenze das Metarationelle zu betrachten, sowie die Beziehungen zwischen den zwei Bereichen zu klären.
Somit werden wir hier bei der Lösung der Fundamentalaufgabe im Bereich des rationellen Wissens bleiben und uns mit dem Verhältnis Wissen-Realität, Modell-Original bzw. Vorstellung-Gegensatnd befassen.
Interessanterweise war diese Frage bei Kant der Ausgangspunkt seines ganzen kritischen Unternehmens. Es gibt ein Brief an Markus Herz vom Februar 1772, in dem Kant schreibt, dass er die Absicht habe ein Werk zu veröffentlichen mit dem er die Frage beantworten wolle - jetzt zitiere ich Kant - "auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand ?". Also hier schreibt er ganz klar, dass der Ausgangspunkt der Kritik der reinen Vernunft - das ist das Werk, dass er veröffentlichen will - diese Frage ist. Somit sage ich mit Kant, dass die Fundamentalaufgabe der Wissenschaftstheorie darin besteht, das Verhältnis zwischen Vorstellung und Gegenstand zu untersuchen und zu klären.
In der Kritik von 1787, d.h. 15 Jahre später, da präsentiert Kant die zentrale Annahme seiner Kritik als Antwort auf diese Frage und er sagt: "Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche ... gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht ... damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, ...". Das steht auf Seite XVI in der Vorrede zur 2.Auflage der Kritik der reinen Vernunft.
Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnisses zwischen Wissen und Realität ist hier als Annahme ausgedrückt, dass nicht die Vorstellung sich nach dem Gegenstand richten soll, sondern der Gegenstand nach der Vorstellung. Das ist später als Kants "kopernikanische Wende" bezeichnet worden und das ist für mich auch die Grundlage meiner Reflexion.
4. Herrschendes Paradigma
Anders sieht es aber aus im herrschenden Paradigma, z.B. jenes das implizit [also unreflektiert] an der ETH oder an irgendeiner anderen Institution herrscht, sei es in den Bereichen Wissenschaft, Technik oder auch Alltag. Da wird behauptet, dass wir in einem Modell ein Abbild bestimmter Eigenschaften eines reellen Systems machen, oder in der Physik, dass wir exakte Beschreibungen des Verhaltens eines Systems machen. Das Modell wird also als Abbild des Gegebenen aufgefasst, und dies wird dann der Kontext für die implizite Antwort auf die Frage des Verhältnisses zwischen Vorstellung und Gegenstand. Der Kontext ist hier die Objektivität, die Behauptung, dass die Vorstellung sich nach dem Gegenstand richten soll.
Beispiele dafür kann man in den Naturwissenschaften viele finden, aber man findet sie auch in den Humanwissenschaften, und von diesen möchte ich einige noch besprechen. Einige stammen von Philosophen die ich als "Ritter der Objektivität" bezeichnen möchte, z.B. Hegel.
Aufgabe und Zweck der Philosophie nach Hegel ist "das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist", bzw. "des Absoluten sich bemächtigen" und Gegenstand der Philosophie ist "dasjenige, was an sich ist, erkennen" [Philosophie des Geistes, Suhrkamp, 1973, S.68]. Wenn wir also das An-sich-sein erkennen, dann müssen wir ein gegebenes An-sich-sein haben, nach dem sich die Vorstellung richten muss. Und das begründet dann ein Konzept von Objektivität als das Bestreben, diese Vorstellung die wir vom An-sich-sein haben dem wirklichen An-sich-sein möglichst anzugleichen.
Ein weiterer Beitrag zum Objektivitäts-Denken wird von Husserl geleistet, z.B. in den "Logischen Untersuchungen" oder in der "Philosophie der Mathematik" wo Husserl Kategorien wie "Teil", "Ganze" oder "Zahl" als ideelle Objekte versteht und nachweisen will, dass sie unabhängig vom denkenden Subjekt existieren. Also die Zahl für Husserl existiert und ist An-sich-seiendes, und die Vorstellung muss sich dann nach dem richten, wenn sie über die Zahl etwas wissen will. Husserl kritisiert zwar unsere natürliche Einstellung zur Welt, in der wir beständig Urteile über das Sein der Gegenstände an sich fällen (Seinsglaube). Andererseits führt er aber dann eine Welt der Wesen ein, in der an und für sich existierende Kategorien existieren (z.B. eben "Teil" und "Ganze") und unsere Vorstellung muss sich nach ihr richten. Dazu muss sie eine Methode folgen, die eidetische Reduktion, mit der dann die Vorstellung die wir haben sich nach den ideell existierenden Gegenständen richten kann und zur Wesensschau gelangen kann. Damit will Husserl die Existenz einer Welt der reinen Logik beweisen, deren Gesetze unabhängig von kognitiven Vorgängen gelten (das Absolute).
Ein Denker, der mehr in der Künstlichen Intelligenz und Kognitionswissenschaft besprochen wird ist Roger Penrose, er sagt zum Bespiel in seinem Buch "The Emperor's New Mind" [Oxford, 1989, S. 97]: "In Chapter 2, I stressed the point that the concept of an algorithm is indeed a profound and 'God-given' notion. In this chapter I have been arguing that such 'God-given' mathematical ideas should have some kind of timeless existence, independent of our earthly selves." Also hier haben wir wieder diese Idee von Begriffen die an und für sich existieren [unabhängig vom menschlichen Denken] und wenn z.B. der Begriff des Algorithmus an und für sich existiert, dann müssen wir die Objektivität akzeptieren und Aufgabe des Menschen der nach Wissen über Algorithmen strebt wäre dann seine Vortellungen nach diesem An-sich-exisiterendes Algorithmus zu richten. Der Mensch darf also nicht seine Vorstellungen anders entwickeln, als dies vom Diktat der Übereinstimmung mit etwas von Menschen Unabhängiges vorgeschrieben wird.
5. Probleme
Ich sehe verschiedene Probleme bei diesem herrschenden Verständnis der Beziehung zwischen Modell und Realität genannt "Objektivität". Das erste habe ich schon am Anfang erwähnt, als ich von der Forderung sprach - mein Ziel - dass der Mensch Verantwortung übernehmen sollte für sein Denken, für die Ergebnisse seines rationellen Denkens. Diese Verantwortung wird aber sehr verwässert, wenn ich sagen kann, dass der Gegenstand oder die Idee von der wir sprechen an und für sich existiert, und dass die Logik, die ich in meinem Denken habe sich nach ihnen richten muss. Dann bin ich nicht mehr verantwortlich für die Inhalte meiner Vorstellung, für meine Logik: ich richte mich ja nach etwas was unabhängig von mir gegeben ist, mein Denken muss sich nach dem richten und ich füge mich um eine Vorstellung aufzubauen, die sich nach der gegebenen Idee oder dem gegebenen Gegenstand richtet. Erst dann werde ich objektiv sein. Dann habe ich also eine Richtlinie die meine Logik bestimmt und meine Verantwortung wird dadurch geschwächt, d.h. meine Übernahme von Verantwortung für die Inhalte, für die Logik meines Denkens.
Weitere Probleme sind meiner Meinung nach, dass diese Konzeption von Objektivität die Aufforderung nach Gehorsam unterstützt, ein gesellschaftliches Modell wo Gehorsam zentral ist, und nicht Kooperation oder das gemeinsame Entwickeln der Gesellschaft. Denn hier steht das Gegebene im Vordergrund, dem sich das Denken angleichen muss; dann findet sich immer jemand der "begabter" ist als die andere und eine bessere Angleichung findet, nach der alle anderen sich unterordnen müssen, weil jener [angeblich] eine bessere Angleichung an das Original gefunden hat. Er selbst sieht sich dabei nur als Diener dieser Angleichung und Objektivität; er erhebt den Anspruch, dass man ihm gehorchen muss, weil er sozusagen diesen besonderen Draht zum gegebenen, unabhängigen Aussermenschlichen gefunden hat. [Merkt dabei nicht, dass jede Aufforderung zum Gehorsam die betroffenen Menschen negiert].Es gibt dann auch Probleme mit der Toleranz, [mit dem gegenseitigen Respekt der individuellen Unterschiede. Realität und Objektivität werden zu Argumente um andere dazu zu zwingen die Welt so zu sehen wie man sie selber sieht].
Es gibt auch theoretische Probleme, z.B. das Dilemma der Abbildtheorien. Sogar Betrand Russell hat darüber geschrieben, zwar nicht in dieser Form - Dilemma der Abbildtheorien - aber er spricht von einer prinzipiellen Schwierigkeit die dem Empirismus innewohnt. Er schreibt [A Brief History of Western Philosophy, 1948, S. 590,591]: "We experience sensations, but not their causes; our experience would be exactly the same if our sensations arise spontaneously. The belief that sensations have causes, and still more the belief that they resemble their causes, is one which, if maintained, must be maintained on ground wholly independent of experience ... This difficulty has troubled empiricism down to present day." Was wir erfahren sind diese 'sensations', also Empfindungen, d.h. Modifikationen der sensoriellen Organen. Aber der Glaube, dass zwischen unseren Empfindungen und ihre Ursachen eine Ähnlichkeit bestehe und dass sie verursacht werden, das kann nicht auf der Grundlage des Empirismus aufrechterhalten werden. Etwas weiter ist Ernst von Glasersfeld gegangen, mit seiner Kritik an die Objektivität. Er beruft sich z.B. auf Xenophanes und schreibt [Abschied von der Objektivität, in: Das Auge des Betrachters, P.Watzlawick (Hrsg.), 1991, S. 19]: "Zur Zeit des Protagoras hatte Xenophanes längst festgestellt, dass, selbst wenn es einem Menschen gelänge, sich die Welt so vorzustellen, wie sie ist, dieser Mensch die Übereinstimmung doch nicht erkennen könnte... Diese Feststellung wurde zum Hauptargument der Skeptiker und ist heute ebenso unwiderlegbar wie damals ...".
Das Dilemma der Abbildtheorien besteht also darin, dass dieser Vergleich zwischen dem Bild das wir uns im Modell machen und dem Original nicht gelingen kann, weil wir nur Wahrnehmungen mit anderen Wahrnehmungen vergelichen können; der einzige Zugang zur Realität den wir haben geht über das kognitive Vermögen, und alles was wir damit hervorbringen ist unter den Bedingungen dieses Vermögen entstanden. Wie sollen wir dann das Resultat mit dem Original in der Realität vergleichen ?
Das hat dann zum Skeptizismus geführt, zur Feststellung, dass man nicht erkennen kann, das Wissen unmöglich ist; dies war die Lösung der Skeptiker.
Kant hat sich dann gegen Skeptizismus und gegen Dogmatismus stellen wollen und hat zum Teil eine Synthese von Empirismus und Rationalismus gemacht, aber vor allem ist er viel weiter gegangen gegenüber diese zwei Schulen.
6.Die Illusion der Objektivität
[Wenn] die Objektivität eine natürliche und unvermeidliche Illusion darstellt, [dann erstaunt es nicht, dass der Abbild-Realismus so verbreitet ist: solange wir die Objektivität nicht in Frage stellen, werden wir diese Illusion auch nicht durchschauen können].
[Jemand, der wie Ceccato, Kant und Ernst von Glasersfeld die Objektivität ebenfalls mit soliden Argumenten in Frage stellt ist Humberto Maturana]. Maturana stellt z.B. die Frage: "How comes that I can say, that that is there, independent from me ?" [Vortrag am 18.10.1992, Heidelberg, Kongress "Die Wirklichkeit des Konstruktivismus"]. Sie bezieht sich auf etwas, was wir ständig tun: wir sagen, dies oder jenes Ding ist so und so beschaffen unabhängig von mir. Deswegen muss ich mich auf die Objektivität berufen, weil ich davon ausgehe, dass das Ding so wie ich es sehe unabhängig von mir besteht.
Ich denke, dass diese Frage "Warum ist der Abbild-Realismus so verbreitet ?", dass dies mit einer natürlichen Anlage im kognitiven Vermögen erklärt werden könnte. Auf die Richtung in der ich vorläufig die Erklärung suchen möchte, verweist die Feststellung, dass wir ständig Dinge als physisch unterscheiden, z.B. als Stuhl, als Tisch oder Fensterscheibe. Und wenn wir das tun, wenn wir diese Operation ausführen - Dinge als physisch unterscheiden - wenn wir die Operation ausführen die es uns erlaubt ein Ding als physisch zu betrachten, dann wird dabei eine Verdoppelung des Dings gemacht. [Sie besteht darin,] dass wir die Begriffe, die Vorstellungen die wir von etwas haben, auf die Dinge projizieren. Und diese Verdoppelung die sehe ich irgendwie als inhärent in der Operation der Konstituierung von etwas als physisches Ding.
Wenn ich in diesem Raum z.B. laufe, dann muss ich mir die Dinge als physisch, als materielle Dinge vorstellen, sonst stolpere ich über die Tische und Stühle. Das ist eine Vorstellung die immer gemacht werden muss, wenn man mit der Umwelt interagiert. Vielleicht ist in der Operation die wir dabei ausführen eine Verdoppelung inhärent. Sie bewirkt, dass wir immer zwei Dinge haben und führt dann dazu, dass wir die Begriffe, mit denen wir etwas modelliert haben [unbemerkt] auf das Ding ausserhalb übertragen; dann entsteht diese 'unvermeidliche und natürliche Illusion', dass das, was ich mir vorstelle unabhängig von mir so beschaffen ist, wie ich es mir vorstelle. Dass die Eigenschaften, die ich mit meiner Logik den Dingen zuschreibe [Ende der Vortrags-Aufnahme, die erst bei der Diskussion fortgesetzt wird. Der folgende letzte Teil des Vortragst ist aus den Vortrags-Notizen abgeleitet] den Dingen an und für sich anhaften.
7. 'Attentional Quantum Model'
Die Idee mit der Verdoppelung stammt von meinem erster Lehrer auf dem Gebiet der Kognitionswissenschaften, Silvio Ceccato (1914-1997), ein Pionier der Computerlinguistik und Kybernetik der mentalen Vermögen. Von ihm stammt auch das Grundgerüst meiner Alternative zum Objektivitäts-Glaube. Ceccato hat vorgeschlagen, dass das Vermögen der Kognition mit einer "Tecnica Operativa" (operationale Technik) als alternative zur Objektivitäts-Philosophie modelliert werden sollte. Er hat seine Methode zum ersten mal bereits 1947 in Zürich vorgestellt (Entretiens de Zürich, organisiert durch F. Gonseth). Ihr Hauptsatz lautet: "Betrachte jeden mentalen Inhalt (Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, Wörter, usw.) als Ergebnis von mentalen Operationen".Daraus ergibt sich, dass die Erklärung eines jeden mentalen Inhalts darin bestehen soll, die mentalen Operationen zu beschreiben, aus denen er sich ergibt. Dies erfordert, das man sich der eigenen mentalen Operationen bewusst wird, was Ceccato "consapevolezza operativa" (operationale Bewusstheit") genannt hat.
Als gemeinsame Grundlge aller mentalen Operationen postuliert Ceccato ein Aufmerksamkeits-Organ, der nicht lediglich eine sekundäre Rolle hat (sich auf etwas konzentrieren, fokussieren) sondern die Hauptrolle beim Konstituieren, Zusammenbauen und Integrieren der mentalen Inhalte spielt. Dieses Aufmerksamkeits-Organ funktioniert auf diskrete Weise - es generiert also elementare Bausteine, die ich seit 1990 "mental quanta" (Italienisch: quanti attenzionali, Deutsch: Denkquanten) genannt habe (während Ceccato von diskreten Zuständen spricht). Diese mentale Quanten sind, wie die Bausteine eines Hauses, alle gleich; dadurch aber, dass sie unterschiedlich kombiniert werden (unterschiedliche Anzahl, unterschiedliche Reihenfolge) ergeben sie die verschiedenen Kategorien des Denkens wie "Objekt", "Subjekt", "Einheit", "Menge", "Beginn", "Ende", "Teil", "Ganze", "Zahl", "Punkt", usw.
Im folgenden Bild bezeichne ich ein einzelnes Denkquant mit der Buchstabe "q". Die Kombinationen einzelner Denkquanten (Kategorien) sind in rechteckige Zellen geschrieben und rechts davon steht das sie bezeichnende Wort. Mit runden Klammern bezeichne ich in jeder Denkquant-Formel jene Quanten-Sequenzen, die als Ganzes in einer umfassenderen Kombination aufgenommen werden. Rechts von den Zellen gehen Linien ab, die zeigen sollen aus welchen einfacheren Komponenten eine komplexere Kategorie zusammengesetzt wird.
[Bild 2: Kombinationen von Denkquanten:
Cosa = Ding; Oggetto = Objekt, Gegenstand; Soggetto,
Io = Ich; Singolare, uno = Einzahl, eins; Plurale
= Mehrzahl; Insieme, collettivo = Menge, Gesamtheit; Inizo =
Beginn; Fine = Ende]
Die Kategorie des Objekts z.B. ergibt sich also gem. obiger Grafik aus der Kombination eines einzelnen Denkquant mit zwei die, bevor sie mit diesem ersten kombiniert werden, bereits zu einer Unter-Einheit kombiniert worden sind. Dies sind, vereinfacht beschrieben, die mentale Operationen welche die Kategorie "Objekt" konstituieren. Etwas, z.B. ein Tisch, eine Fensterscheibe, ein Bleistift als Objekt zu betrachten erfordert, dass diese Operationen durchgeführt werden. Diese mentalen Operationen gehen dem Erfahrungsobjekt (diese oder jene Fensterscheibe) als objektbestimmend voraus und sind auch in diesem Sinne (und nur in diesem Sinne, also nicht im Sinne von angeboren) "a priori".
Danke für die Aufmerksamkeit.
III. Diskussion
©1999, Marco C. Bettoni, FHBB - 11.01.99 - 19.01.00