MCB

Eine konstruktivistische Interpretation von Kants Kognitionstheorie

 

Marco C. Bettoni

Fachhochschule beider Basel, St.Jakobs-Strasse 84,
CH - 4132 Muttenz, Schweiz - m.bettoni@fhbb.ch

 

 

Zusammenfassung

Ausgehend von einer kurzen Darstellung des interpretatorischen Rahmens und seiner logisch-philosophischen Grundlagen (italienischer Operationalismus und Radikaler Konstruktivismus) werden in diesem Beitrag zehn Prinzipien vorgestellt welche den Kern der Kantischen Kognitionstheorie aus konstruktivistischer Sicht beschreiben. Diese Prinzipien zeigen u.a. daß der Begriff des Objekts derart neu konzipiert werden kann, daß die Annahme wonach im kognitiven Prozeß der sinnlichen Erfahrung es die Gegenstände sind welche sich nach den mentalen Funktionen richten nicht mehr abstrus und idealistisch sondern plausibel und viabel wird. (Veröffentlichung vorgesehen in "Delfin", Prof. S.J.Schmidt)

 

Einführung

Die in diesem Aufsatz vorgestellte konstruktivistische Interpretation von Kants Modell der kognitiven Funktionen ist das neuste Ergebnis einer vor 10 Jahren begonnenen Reflexion und wurde kürzlich im Gebiet der Künstlichen Intelligenz angewendet, insbesondere auf Methoden der Modellierung im Rahmen der Softwareproduktion. Konstruktivistisch bezieht sich hier auf zwei Grundlagen des verwendeten interpretatorischen Rahmens, nämlich den italienischen Operationalismus nach Silvio Ceccato und den Radikalen Konstruktivismus nach Ernst von Glasersfeld.

Silvio Ceccato (1914-1997), ein italienischer Pionier der Computerlinguistik und Kognitionswissenschaft (Kybernetik) ist der Gründer der sogenannten "Scuola Operativa Italiana", eine italienische Schule des Operationalismus deren zwei wichtigsten Inspirationsquellen der bekannte amerikanische Operationalist Percy W. Bridgman und der umstrittene deutsche Mathematiker, Physiker und Philosoph Hugo Dingler waren. Im Jahre 1949 begannen Ceccato und die anderen Vertreter seiner Schule ihre Beiträge in der Zeitschrift "Methodos" (Mailand, Verlag La Fiaccola) zu publizieren. Neben einer Kritik am methodischen Aufbau der Erkenntnistheorien geht es in jenen Aufsätzen um die Entwicklung einer "operationalen Technik" als Alternative zur Philosophie. Ziel der operationalen Technik nach Ceccato ist die operationale Bewusstheit die mit den Mitteln einer "operativen Methodologie" erreicht werden kann. Der Grund- und Kernsatz der operativen Methodologie lautet: "Betrachte jeden mentalen Inhalt (Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, Wörter, usw.) als Ergebnis von Operationen." und führt damit unmittelbar zur zentrale Frage der Erforschung des Denkens nach Ceccato: "Welche mentalen Operationen müssen wir ausführen, um eine Situation auf jene Weise aufzufassen, in der wir sie eben auffassen ?". Das Hauptergebnis der fast 50-jährigen Forschungen Ceccatos und seiner Schule besteht in der Auffassung wonach der Kern des kognitiven Vermögens, d.h. das begriffliche Denken und die mentalen Kategorien, von pulsierenden Aufmerksamkeits-Vorgänge (pulsierendes Auffassungsvermögen) bestimmt und konstituiert werden.

Ernst von Glasersfeld arbeitete ab 1948 ca. 15 Jahre lang mit Silvio Ceccato in Italien zusammen und benutzt seit seiner Übersiedlung in den USA den Operationalismus Ceccatos (insb. dessen Methode der Bedeutungsanalyse) als eine der wichtigsten Grundlagen seines Radikalen Konstruktivismus wonach der Zweck von Kognition in der Organisation der Erfahrungswelt liegt (Zweck und Mittel wechselseitig austauschbar) und nicht in der Abbildung (Erkenntnis) einer gegebenen (objektiven) ontologischen Realität.

Von einem Modell der kognitiven Funktionen zu sprechen mag in Zusammenhang mit Kantischer Philosophie ungewöhnlich erscheinen: in der Tat handelt es sich dabei um eine Leseart des Kantischen Werks die bisher vernachlässigt wurde und deshalb noch ganz zu entwickeln ist. Das in dieser Studie benutzte Material ist sehr bekannt und befindet sich fast vollständig in einem relativ begrenzten Teil der Kritik der reinen Vernunft (in der Folge als Kritik bezeichnet), genauer im Teil "Analytik der Begriffe" (ca. 90 Seiten von insgesamt mehr als 900 Seiten der ganzen Kritik), den die Forscher wohl als Kern des ganzen Werks anerkennen wofür sie aber zugegebenerweise noch keine kohärente und konsistente Deutung entwickeln konnten.

 

Kant neu gelesen

Die Prämisse wonach die Auffassung dieses zentralen Teils des Kantischen Kritizismus als "Modell der kognitiven Funktionen" von Grund auf neu zu entwickeln wäre, stütz sich u.a. auf folgende Feststellungen:

  1. Die Deutungen etablierter Philosophen (z.B. Strawson) nehmen einen Blickpunkt ein und benutzen einen impliziten Schlüssel, welche in Widerspruch zur zentralen Hypothese der Kritik stehen. Kant schreibt bereits im Februar 1772 (9 Jahre vor der 1.Auflage der Kritik) in einem Brief an den Freund Markus Herz, dass er die Absicht habe ein Werk zu veröffentlichen mit dem er die Frage beantworten wolle "auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand ?". In der Vorrede zur 2.Auflage (1787, 15 Jahre danach) wird die Antwort auf jene Frage als zentrale Annahme der Kritik präsentiert: "Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche ... gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht ... damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, ..." (B XVI). Nimmt man diese Annahme ernst, so wird es gleich klar, dass die dem Kantischen Ausdruck "Vorstellung" üblicherweise gegebene Deutung als "Repräsentation" (dies wird deutlich in den englisch-, französisch- und italienischsprachigen Übersetzungen und Studien, wo Vorstellung mit "representation", "répresentation" und "rappresentazione" resp. übersetzt werden) in totalem Widerspruch zur genannten zentralen Hypothese der Kritik steht; und mit einem widersprüchlichen Interpretationsschlüssel kann kaum eine viable (kohärente und konsistente) Deutung entwickelt werden.
  2. Viele der klassischen Kant-Forscher begehen darüberhinaus einen zweiten grundsätzlichen Fehler: sie suchen in der Kritik etwas was Kant auf keinem Fall haben wollte, weil mit seinen Zielen unvereinbar. Es geht um die Suche der Forscher nach dem System einer an und für sich gültigen Logik, (wie bei Husserl) die unabhängig von der Dynamik des menschlichen Denkens bestehen sollte und allen Menschen übergeordnet wäre, wie in Platons Lehre einer Welt der Ideen. Diese Suche führt die Kant-Forscher u.a. dazu Kants Theorie der Synthesis zu ignorieren oder wegen angeblichem "Psychologismus" abzuweisen während sie, aus einem konstruktivistischen Standpunkt betrachtet, die tragende Struktur von Kants Modell der mentalen Tätigkeit bildet.
  3. Nur kürzlich haben einige Kant-Forscher neue Wege versucht. Patricia Kitchner (University of California, San Diego) versucht Kant aus der Sicht der kognitiven Psychologie zu deuten und suggeriert den Experten dieses Gebiets, dass eine solche Interpretation ihnen Anregungen zur Lösung ihrer Probleme liefern könnte. In Deutschland revolutionierte Michael Oberhausen die etablierte Deutung des Kantischen a priori. In seiner Auffassung ist Kants Lehre von einer "acquisitio originaria" apriorischer Vorstellungen nicht von keiner oder nur von marginaler Bedeutung sondern "steht im Zentrum der kritischen Philosophie". Ihr zufolge sind Begriffe a priori nicht angeboren sondern entspringen der Aktivität des Verstandes (und werden zu Funktionen desselben, wie im autopoietischen Modell nach H. Maturana). Vorläufer dieser und ähnlicher Ansätze der Erneuerung war 1963 R.P. Wolff gewesen, der in seiner Doktorarbeit die zentrale Rolle der Synthesis betont hatte und als erster ein Modell der mentalen Tätigkeit nach Kant darauf gründen konnte.
  4. Die Schwierigkeiten bei der Deutung der Kritik sind weitgehend bekannt. Sie dürfen aber nicht als Unfähigkeit des Autors gesehen werden (Mängel im schrifltichen Ausdruck, Inkonsistenzen, Widersprüche und Verworrenheit des Denkens). Solche Mängel auf der Seite Kants könnten höchstens nebensächliche Deutungsschwierigkeiten erklären, können aber nicht als Ursachen für die Hauptschwirigkeiten herangezogen werden. Diese gründen sich nämlich nicht in hypothetischen Unfähigkeiten Kants sondern auf die Art des Unternehmens das er sich vorgenommen hatte: eine begriffliche Revolution di eine neue Sprache vorschlug - wie Kant selbst in einem Brief an Christian Garve vom 7.8.1783 erläutert - jedoch für die Bezeichnung der neuen Begriffe die Verwendung traditioneller Wörter wählte und im allgemeinen Gebrauch sich den Zwängen unserer "repräsentationistischen Sprache" kaum widersetzte. Teil dieser neuen Sprache sind z.B. die hochstrukturierten Bedeutungen welche Kant sowohl mit alltäglichen Wörter wie Vorstellung und Anschauung bezeichnet, als auch mit spezifisch philosophischen Ausdrücken wie a priori und Mannigfaltige.

Um eine viable Interpretation zu erhalten, müssen - wegen ihrer zentralen Rolle in der begrifflichen Revolution der Kritik - zumindest folgende Deutungen grundsätzlich revidiert werden:

In der diesem Aufsatz zugrundeliegenden Forschung haben sich folgende, den traditionellen zum Teil diametral entgegengesetzte Bedeutungen bewährt:

 

Zehn Prinzipien

Die fundamentale Hypothese Kants über die Beziehung zwischen mentale Grundfunktionen und Objekten befindet sich im bereits zitierten Abschnitt B XVI: statt implizit davon auszugehen, dass unsere Erkenntnis sich nach den Objekten richten müsse (Repräsentationalismus), nehme man versuchsweise an, dass die Objekte sich nach unseren kognitiven Vorgängen richten müssen (sogenannte Kopernikanische Wende).

Diese Auffassung von Objekten die sich nach unseren kognitiven Funktionen richten, sollte nicht als Idealismus interpretiert werden, weder im Sinne der Behauptung, dass Kognition das Dasein der Dinge erzeuge noch als Negation einer unabhängigen Realität.

In der Tat lehnte Kant explizit den Idealismus ab ("Widerlegung des Idealism", B 274), betrachtete sich selbst als empirischer Realist (A 371) und verwies in vielen Stellen in der Kritik auf das "Dasein der Dinge".

Die Grundidee ist, dass die mentale Tätigkeit die Objekte möglich macht nicht insofern als ihre Existenz ("dem Dasein nach", B 125) betroffen ist, sondern insofern als unser Erleben von Ordnung und Regelmässigkeit betrachtet wird (A 125), d.h. sozusagen "dem Erleben nach": das heisst, dass die Strukturierung des Mannigfaltigen erst als Ergebnis unserer Erlebensweise entsteht.

Was existiert sind Quellen von Veränderungen in unseren sensorischen Organen, welche einen kontinuierlichen Fluss von Perturbationen ("Eindrücke") auslösen (triggern); aber diese Perturbationen weisen noch nicht jene spezifische Ordnung und Regelmässigkeit auf, die wir in unseren Objekten erleben.

Diese Auffassung von Objekten, die sich nach unseren kognitiven Vorgängen richten, kann kurz im folgendem Prinzip formuliert werden:

1. Ausrichtung der Objekte nach den kognitiven Vorgängen. Die Objekte richten sich nach unseren kognitiven Vorgängen insofern als unser kognitives System - zur Gelegenheit ausgelöster Perturbationen - eine Erfahrung von Ordnung und Regelmässigkeit konstituiert, jedoch weder diese Perturbationen selbst auslöst, noch ihre Quellen erzeugt.

Kant erläutert in der Einführung zur Kritik, dass das Rohmaterial sinnlicher Eindrücke (sensorische Perturbationen) von unseren kognitiven Funktionen verarbeitet werden müsse, um jene Erkenntnis von Objekten zu werden, die als Erfahrung bezeichnet wird (B1).

Worin besteht diese Verarbeitung ? Tun unsere mentale Funktionen einfach Eindrücke in Erkenntnis verwandeln? Kants Lösung ist viel strukturierter: er nimmt an, dass beim generieren empirischer Erkenntnisse unsere mentale Funktionen dem, was wir durch sensorische Veränderungen empfangen eine Art von Erkenntnis hinzufügen würden - a priori Erkenntnisse genannt - welche absolut unabhängig von jeder Erfahrung sind (d.h. absolut keine empirische Bestandteile enthalten).

Dies lässt das Problem der a priori Erkenntnisse entstehen: was für Erkenntnisse sind das wohl, welche Rolle spielen sie in der Durchführung mentaler Grundtätigkeiten, welche Funktionen sind nötig, um solche Tätigkeiten durchzuführen und welche Mechanismen erfüllen die damit zusammenhängenden Anforderungen ?

In der Kritik, wo Kant "die für die Durchführung mentaler Grundtätigkeiten notwendigen Vermögen" untersucht, befinden sich die Grundlagen seiner Antworten auf diese Fragen im Teil "Analytik der Begriffe". In der Einführung dieses Teils (B 90) erläutert er die Methode seiner Analyse. Sein Vorgehen wird nicht "das gewöhnliche Verfahren in philosophischen Untersuchungen, Begriffe, ... ihrem Inhalte nach zu zergliedern" sein, d.h. nicht jene Methode folgen die Hegel einige Jahrzehnte später gegen Kant wieder durchsetzen wird, nämlich Begriffe zu analysieren in dem "was sie an ihnen selbst sind" . Vielmehr beabsichtigt Kant eine selten gebrauchte analytische Vorgehensweise zu verwenden, welche in der "Zergliederung des Verstandesvermögens selbst" also in einer Modellierung der kognitiven Funktionen besteht.

Diese Modellierung wird hauptsächlich jene mentale Funktionen betreffen welche "bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt" werden und die nun im Modell "von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit" dargestellt werden sollen (B 91).

Auch wenn diese lediglich einführende, methodologische Betrachtungen sind, ihre Bedeutung für eine viable Interpretation ist derart gross (vor allem auch angesichts der vehementen Bekämpfung dieser Kantischen Methode durch Hegel), dass es angebracht erscheint sie explizit in einem Prinzip zusammenzufassen.

2. Modellierung der Vermögen. Statt die Inhalte von Begriffen zu zergliedern, wie in der Philosophie und den Wissenschaften üblich, versuche man es einmal, das Vermögen der Kognition in einem System kognitiver Funktionen zu zergliedern.

Kant beginnt seine Analyse der mentalen Tätigkeiten durch den Hinweis, dass alle mentale Tätigkeiten auf Urteile zurückgeführt werden können und betrachtet alle Urteile als Funktionen der Einheit von Konstrukten (B92-94).

Aus der allgemeinen (formalen) Logik leitet er eine systematische Darstellung ("Tafel der Urteile") dieser Funktionen ab - z.B. die Funktion der Relation, unterteilt in die kategorische, hypothetische und disjunktive Funktion - welche dadurch bestimmt werden, das in den Urteilen das weggelassen wird, was als Inhalt betrachtet wird.

Aber in seiner Analytik beabsichtigt Kant auch das von der Sinnlichkeit gelieferte Material zu berücksichtigen (Mannigfaltige der Sinnlichkeit) weil dieses Material unbedingt notwendig ist, um einen mentalen Inhalt (Inhalt der Erkenntnis, B 102) zu produzieren, welcher auch den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der transzendentalen Logik darstellt.

Wenn aber ein Material notwendig ist, dann wird - um Urteile mit einem Inhalt zu versehen - auch ein Mechanismus erforderlich sein, der auf dieses Material wirkt.

Worin könnte ein solcher Mechanismus bestehen ? Kant nennt es "Synthesis" und dieses Konzept wird eine zentrale und überragende Rolle in seinem Modell spielen, wie die Kant-Forschung, dank der Pionierleistung von Wolff erst heute vermehrt ernst zu nehmen scheint.

Die Synthesis, behauptet Kant, spielt in der Erkenntnis eine entscheidende Rolle, weil sie das ist, was unseren Konstrukten einen empirischen Inhalt gibt: sie ist "dasjenige, was eigentlich die Elementen zu Erkenntnissen sammelt, und zu einem gewissen Inhalt vereinigt" (B 103), oder genauer, sie ist "die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen." (B 103).

Ein einfaches Prinzip, welches die Kernidee eines Mechanismus ausdrückt, welcher unseren mentalen Konstrukte Inhalte liefert, ist das folgende:

3. Produktion von Inhalte. Der empirische Inhalt der Urteile (der Konstrukte oder ‘Begriffe’ und ihrer Verbindungen oder ‘Erkenntnisse’ ) wird durch einen Akt (Operation, Funktion) der Synthesis produziert.

Aber welche Rolle spielt die Synthesis wenn sie den Urteilen Inhalte liefert und wie funktioniert diese Synthesis ?

Auf der einen Seite (Input) haben wir das von der Sinnlichkeit gelieferte Material und auf der anderen (Output) eine mentale Einheit die mit Inhalt versehen ist.

Das Material besteht aus einer Vielheit sensorischer Modifikationen (physiologisch eine Masse oder ‘cluster’ elektrochemischer Impulse) welche mental in einem raumzeitlichen Raster gefasst werden: Kant nennt es Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori oder Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori (B 102-103).

Im Einklang mit seiner grundlegenden Annahme der bestimmenden Rolle von Kognition in der Konstruktion unserer Erkenntnisse (Spontaneität unseres Denkens) behauptet er, dass diese raumzeitlich gerasterte Vielheit "zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden" werden müsse "um daraus eine Erkenntnis zu machen" (B 102).

Wenn er dann fortfährt mit der Behauptung, dass "keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen" können (B 103), leitet er dies aus der These ab, dass der Inhalt eines jeden Begriffs nicht aus der Synthesis von Prädikaten sondern aus der Synthesis der raumzeitlich gerasterten Vielheit hervorgebracht wird. Dieser wichtige Aspekt wird im folgenden vierten Prinzip zusammengefasst.

4. Der Akt der Synthesis. Die Synthesis besteht aus den Operationen des Durchgehens (‘scanning’) der raumzeitlich gerasterten sensorischen Vielfalt, der Aufnahme von Teilen dieser Vielfalt in Elemente (‘fragmenting’) und der Verbindung dieser Elementen um einen gewissen begrifflichen Inhalt zu erhalten.

Bevor Kant diese Einführung in die Funktion der Synthesis im allgemeinen beendet, ordnet er sie einer mentalen Funktionseinheit zu die er Einbildungskraft nennt und weist nachdrücklich darauf hin, dass diese "eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der Seele" sei, "ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind" (B 103).

In einem später folgenden Teil seiner Abhandlung wird er dieselbe Idee wiederholen mit dem Hinweis, dass wir uns der Operation des Verbindens nicht unbedingt bewusst werden (B 130) und dass wir nicht fähig sind die "natürliche und unvermeidliche Illusion" zu überwinden, welche bewirkt, dass wir die Objekte unseres Erlebens als gegebene Tatsachen betrachten (unterstützt durch die fast unvermeidliche Zwänge unserer repräsentationistischen Sprache welche die begriffliche Verfasstheit unseres Erlebens bestimmt) statt sie als Ergebnis unserer Synthesis aufzufassen.

Diese Anmerkungen über die Bewusstheit der Synthesis sind wichtig in Zusammenhang mit der radikal neuen Kantischen Auffassung des Objekts als etwas was sich nach den mentalen Funktionen richtet: wenn die Synthesis eine entscheidende Rolle spielt in der Erklärung der Art und Weise wie die Objekte sich nach den mentalen Funktionen richten, und wenn wir sowohl selten uns dieser Funktion bewusst sind als auch die Illusion nicht vermeiden können, dass ihre Ergebnisse gar nicht ihre Ergebnisse seien, sondern sie als unviverselle Gegebenheiten betrachten, dann überrascht es nicht, wenn Kants fundamentale Hypothese uns so abstrus, "übertrieben und absurd" (A 127) erscheinen kann. Auf diese Weise gelangen wir zum folgenden fünften Prinzip:

5. Bewusstheit der Synthesis. Obwohl Synthesis für die Kognition unbedingt notwendig und bestimmend ist, erleben wir kaum bewusst ihre Rolle beim Ermöglichen, dass die Objekte sich nach unseren mentalen Vorgängen richten.

Nachdem Kant seine Auffassung von Synthesis auf diese Weise eingeführt hat, greift er zur Erklärung des Mechanismus welcher die drei Operationen (1) des Durchlaufen eines raumzeitlichen Rasters, (2) der Aufnahme von Teilen dieses Rasters in Elemente und (3) der Verbindung dieser Elemente realisieren könnte.

Er konzipiert diese 3 Schritte als eine dreifache Synthesis (A 98 - 110): ein Durchlaufen und Zusammennehmen (durch Assoziationen) der raumzeitlichen Vielheit (Synthesis der Apprehension), die Operation der Weiterführung vorangehender Konstrukte beim Übergang zu den folgenden (Synthesis der Reproduktion) und die Operation welche verschiedene Konstrukte der (reproduzierten) Apprehension zu einer bewussten Einheit verbindet (Synthesis der Rekognition).

Wie für die Urteile, welche durch "Funktionen der Einheit" realisiert werden (B 94), so ist auch bei der Synthesis einer raumzeitlichen Vielheit die Einheit ihrer Operationen erforderlich. D.h., die gerade ablaufende Operation der Synthesis muss entweder mit der vorangehenden integriert werden, oder den Anfang einer neuen synthetischen Einheit bilden und alle Operationen müssen in diskreten synthetischen Einheiten (Elemente) gefasst werden.

Aber was könnte diese Funktion der Einheit unter Konstrukte liefern ? Die von Kant in der Kritik formulierte Lösung dieses Problems bildet eine der meist umstrittenen zentralen Behauptungen seines Ansatzes.

Er behauptet, dass dieselbe Funktion (B 104/105), welche in einem Urteil verschiedene Konstrukte zu einer Einheit verbindet, auch wie ein Begriff funktioniert (reiner Begriff, "Kategorie" genannt) welcher die verschiedene Konstrukte die aus der Synthesis der raumzeitlichen Vielheit entspringen zu einer bewussten Einheit verbindet.

Auf diese Weise erhält er die Tafel der Kategorien, welche die grundlegenden Begriffen des Denkens bilden - z.B. die Kategorien der Relation, d.h. (1) der Inhärenz und Subsistenz (Subjekt-Prädikat), (2) der Kausalität und Dependenz (Grund-Folge) und (3) der Gemeinschaft oder Wechselwirkung (Element-Menge bzw. Aktion-Reaktion) - und von denen jeder mit einer bestimmten Form eines Urteils aus der Tafel der Urteile übereinstimmt.

Die Zusammenfassung in einem Prinzip der dritten und wichtigsten Operation von Synthesis (das Verbinden) ergibt:

6. Implementation der Synthesis. Durch dieselben mentalen Funktionen der Einheit die den Urteilen Einheit geben, werden im Verstand auch die (apprehendierte) Konstrukte der raumzeitlichen Vielheit (Assoziationen) zu bewussten Einheiten (Erkenntnisse) verbunden. Diese Funktionen heissen "reine Verstandesbegriffe a priori" oder "Kategorien".

In der Fortsetzung seiner Analyse erläutert Kant wie die bisher entwickelte Auffassung von Synthesis (Prinzipien 3, 4 und 6) noch erweitert werden müsse mit der "Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können" (B 117) bzw. mit einer Untersuchung darüber "wie ... subjektive Bedingungen des Denkens ... objektive Gültigkeit haben sollten" (B 122). Denn es ist "nicht so leicht einzusehen" (B 123) , dass Synthesis - z.B. der Begriff der Ursache "welcher eine besondere Art der Synthesis bedeutet" (B 122) - "in Ansehung des Gegenstandes a priori bestimmend" sei (B 125). Man könnte z.B. sagen, dass die Erfahrung genug Beispiele von Regelmässigkeiten der Erscheinungen liefern würde um z.B. "den Begriff der Ursache davon abzusondern" (B123) und aus solchen Abstraktionen folgern, dass auch im Falle der Kategorien es der Gegenstand ist, welcher "die Vorstellung ... allein möglich macht " (B 124/125) d.h. mit anderen Worten die Synthesis bestimmt, der Gegenteil also von dem was Kant beweisen will.

Es ist also unbedingt notwendig, dass in der dritten Operation von Synthesis, nämlich "Elemente verbinden" (4. Prinzip), die Kategorien, welche als deren Implementation eingeführt wurden (6. Prinzip), "als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrungen erkannt werden" (B 127). Mit anderen Worten beabsichtigt Kant zu beweisen dass und wie die Kategorien notwendig seien um "etwas als einen Gegenstand zu erkennen" (B 125).

Um dieses Ziel zu erreichen unternimmt Kant die vielleicht aufwendigste und komplexeste unter seinen Analysen der mentalen Vorgänge (die er "Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" nennt (B 124), eine Untersuchung welche Objekte, Begriffe, Erfahrung und kognitive Funktionen umfasst.

Obwohl diese "Deduktion" von den Spezialisten einstimmig als der Kern seiner Erkenntnistheorie anerkannt wird, seine "tiefste Untersuchung über die Natur und die Quelle des Erkennens", sind sich die Kant-Forscher über die Deutung wie auch über die Bewertung des Erfolgs der Deduktion in keiner Weise einig. Einige unter ihnen haben aber kürzlich zumindest darauf hingewiesen, dass dieser Teil der Kritik zu den in den Kognitinswissenschaften und insbes. in der Künstlichen Intelligen z.Z. geführten Diskussionen bedeutende Beiträge liefern könnte,.

Kant beginnt seine Analyse der Erfahrung, d.h. der Art wie wir etwas als Objekt erkennen (auffassen) indem er Anforderungen an den Fluss der mentalen Tätigkeit und am Verhältnis zwischen Erkenntnis und physische Gegenstände spezifiziert. Im Fluss der mentalen Tätigkeit, behauptet er, brauchen wir das "Bewusstsein, dass das was wir denken, eben dasselbe sei, wie wir einen Augenblick zuvor dachten" (A 103); ohne diese bewusste Einheit in der Kette der Vorstellungen (Konstrukte), würde der nun wiederholte (re-produzierte, wieder produzierte) vorangehende Konstrukt "eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande" sein (B 103), mit der Konsequenz, dass "Begriffe, und mit ihnen Erkenntnis von Gegenständen ganz unmöglich" wären (B 104).

Nach einer Digression über die Rolle der Begriffe (siehe weiter) stellt sich Kant die Frage der Beziehung sogen. Gegenstandsbezug) zwischen Erkenntnis (Inhalt der Konstrukte, der Begriffe) und Objekt: er beantwortet sie durch die Ablehnung der weit verbreiteten Auffassung dieser Beziehung als Korrespondenz (Übereinstimmung) zwischen Erkenntnis und materiellen Gegenstand "weil wir ausser unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegen über setzen könnten" (A 104).

Anstelle der Korrespondenz führt Kant eine neue Art Objekte aufzufassen ein, wo das Objekt der Erkenntnis "als dasjenige angesehen wird, was dawieder ist, dass unsere Erkenntnis nicht aufs Geratewohl, oder beliebig ... bestimmt seien" (A 104). Die Beziehung zwischen diesen Objekten und ihrer Erkenntnis (Konstrukte) sieht er dann als durch Konsistenz und Kohärenz charakterisiert "weil, indem sie (unsere Erkenntnisse, d.h. die Inhalte unserer Konstrukte) sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d.i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstand ausmacht" (A 104/105).

Aber diese notwendigerweise zur Auffassung von etwas als Objekt erforderliche Einheit kann nicht von den Gegenständen (als materielle Entitäten) abgeleitet werden, weil das was unseren kognitiven Funktionen gegeben wird, nichts weiteres als eine unbestimmte Vielheit ist. Dies führt zum Problem der Verbindung einer unbestimmten Vielheit. Die Verbindung - im Sinne jener kohärenten und konsistenten Einheit die wir erleben - "liegt nicht in den Gegenständen" (B 134) und kann deshalb "niemals durch Sinne in uns kommen" (B 129): sie muss von einem Akt der Synthesis (Operation des Verstandes, "eine Verrichtung des Verstandes") geleistet werden, weil "wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben" (B 130), und muss auch immer vor der Analysis kommen, "denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen" (B 130). In einer zeitgemässeren Form ausgedrückt, ist unser Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen "weder in einer einfachen noch in einer evidenten Weise 'data driven' (datengesteuert)": er muss 'goal driven', d.h. ein zielgesteuertes Vermögen sein, welches sich selbst und die eigene Erfahrung in einer konsistenten und kohärenten Weise hervorbringt (konstruiert), wie in Piagets pionierhafter kontruktivistischer Ansatz, wonach "der Verstand die Welt organisiert indem er sich selbst organisiert".

Aus dieser Analyse der Natur der Gegenstände und "da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben" - wir also über keinem direkten Zugang zu den materiellen Gegenständen verfügen, wenn wir diese als etwas von Erkenntnis Verschiedenes auffassen - können wir "alsdenn sagen ...: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung (raumzeitliche gerasterte Vielheit) synthetische Einheit bewirkt haben" (A105) . Diese ganze Einführung in die Analyse der Erfahrung kann im folgenden Prinzip zusammengefasst werden:

7. Synthetische Entstehung der Objekte. Die bewusste synthetische Einheit konstituiert das Objekt (macht es aus) als konsistentes und kohärentes Konstrukt. Aber die Verbindung, welche jene Einheit konstituiert, ist nicht in den Gegenständen (als materielle Entitäten) gegeben. Vielmehr sind es die Gegenstände, die aus der Verbindung entstehen (durch Verbindung gegeben werden).

Was aber realisiert diese notwendige "synthestische Einheit" und führt die Operation der Verbindung aus ? Kants Lösung ist, dass nur das Bewusstsein (die Apperzeption) aus einer Vielfalt von Konstrukten - oder genauer aus der Synthesis dieser Vielfalt - objektive Einheit entstehen lassen könne (in Objekten fassen, d.h. Funktion der Objektkonstitution des Bewusstseins) und das das Bewusstsein dies mit Hilfe der Kategorien verrichten würde (kategoriale Funktion des Bewusstseins).

Somit "erfordert alles Erkenntnis einen Begriff" (A 106) und dieser ist "seiner Form nach jederzeit etwas Allgemienes, und was zur Regel dient" wonach die Operation der Verbindung ausgeführt wird.

Zum Beispiel, um eine Linie als Objekt aufzufassen "muss ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen syntetisch zu Stande bringen, so, dass die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewusstseins (im Begriffe einer Linie) ist" (B 137/138). Hier ist der Begriff der Linie das was als Regel (Algorithmus, Prozedur als Kette von Operationen) für den Vorgang der Verbindung dient und das was dafür sorgt, dass die notwendige Konsistenz und Kohärenz einer Linie als mentales Objekt sichergestellt wird.

Demzufolge besteht dann die Rolle der Begriffe - wie auch der Name suggeriert - darin, als einheitsstiftende Funktionen des Bewusstseins zu wirken, so dass wir alle unsere Konstrukte um einen Momentanzentrum des Erlebens sammeln (be-greifen) können. In dieser Rolle werden Begriffe auf sensorischen Modifikationen angewandt die "für uns nichts sind und uns nicht im mindesten etwas angehen, wenn sie nicht ins Bewusstsein aufgenommen werden können" (A 116).

Diese Auffassung von Begriffen und Bewusstsein weist starke Analogien mit derjenigen die Silvio Ceccato in seinen Pionierleistungen auf dem Gebiet Kognitionswissenschaften entwickelt hat. Dort hat Ceccato der Aufmerksamkeit (verstanden als pulsierendes Auffassungsvermögen) eine zentrale Rolle innerhalb seines Modells der mentalen Funktionen3 zugewiesen.

Auf diese Weise gelangen wir zum folgenden Prinzip:

8. Bewusstseins-Funktion der Kategorien. Die Kategorien sind Regeln nach denen die Operationen der Verbindung ausgeführt werden. Sie implementieren nicht nur die notwendige synthetische Einheit der Objekten unseres Erlebens, sondern ebenfalls die Funktion eines "Zentrums der Aufmerksamkeit" (Momentanzentrums des Erlebens) welcher das Bewusstsein der hervorgebrachten Konstrukte ermöglicht.

Auf diese Weise sind wir nun in der Lage das Problem der Erkenntnisse a priori anzugehen. Die Aufgabe synthetische Einheit zu schaffen erfordert von den Operationen der Verbindung strenge Allgemeinheit (der Regel) und Notwendigkeit (der Verknüpfung), d.h. universelle Funktionen: denn sonst würde die Einheit der Synthesis "ganz zufällig sein" und es "würde möglich sein, dass ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele auffüllete, ohne dass doch daraus jemals Erfahrung werden könnte." (A 111). Sein Konzept von a priori präzisiert Kant weiter mit der Feststellung, dass "die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdenn a priori bestimmend ist, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen." (B 125) und eine Form von Universalität findet er in sogenannten "Bedingungen der Möglichkeit" von etwas, weil sie völlig frei anwendbar sind.

Dementsprechend nimmt Kant an, dass die Kategorien - als reine Verstandesbegriffe a priori, siehe Prinzip 6 - diese universelle Funktionen implementieren und zwar nicht als von der Erfahrung abgeleitete, abstrakte Repräsentationen von Gegenstände der Erfahrung (A 112) - wie allgemein angenommen wird - sondern als "Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (A 111).

Sein Hauptargument um diese Behauptung zu unterstützen geht von der Forderung nach der Einheit der Erfahrung aus (mentale oder experientielle Einheit): "Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmässigen Zusammenhange vorgestellet werden". Über diese eine Erfahrung sagt Kant, dass sie nichts anders ist "als die synthetische Einheit der Erscheinungen nach Begriffen." (A 110) - wobei er unter Erscheinung den unbestimmten Gegenstand einer empirischen (über die Empfindung auf dem unbestimmten Gegenstand bezogene) Anschauung (B 34) versteht.

Wenn nun im Prozess der Erfahrung die Gegenstände uns als unbestimmt gegeben werden und sie erst durch unsere mentale Funktionen der Synthesis bestimmt werden (siehe Prinzip 7), dann folgt, dass sie "bloss in uns sind" (A 129).

Sind aber alle Objekte womit wir uns beschäftigen können nur in mir, dann müssen sie auch "Bestimmungen meines identischen Selbst" sein, d.h. es muss eine durchgängige Einheit dieser Objekte in einer und derselben Apperzeption geben (A 129), d.h. in einem Zentrum um dem wir sie dynamisch sammeln, derart, dass das Zentrum von Moment zu Moment varieren kann (Momentanzentrum, Zentrum der Aufmerksamkeit). Denn sonst würde "ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele auffüllen" woraus niemals die geforderte einheitliche Erfahrung werden könnte.

Da nun diese Einheit des Bewusstseins eine Vorbedingung für die Erkenntnis von Gegenständen bildet, folgt dass auch die Funktionen der Synthesis, welche diese Einheit implementieren "vor aller Erkenntnis des Gegenstandes" vorhergehen müssen d.h., sie müssen a priori sein, also Kategorien. Und dadurch, dass nur diese kategorialen Funktionen die Bestimmung des Gegenstandes möglich machen können, d.h. objektbesimmend sind, werden "a priori" und "objektbestimmend" zu einer fundamentalen, unzertrennlichen Merkmalskombination der mentalen Operationen unserer Erfahrung. Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen:


9. Einheit und Möglichkeit der Erfahrung. Die Kategorien (reine Verstandesbegriffe a priori) sind jene universelle Funktionen welche die Einheit der Erfahrung implementieren und als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung erforderlich sind.

An dieser Stelle haben nun Kants Argumente auf dem Weg zum Nachweis, dass "die Gegenstände sich nach den mentalen Funktionen richten" einen ersten Etappenziel erreicht: in der Analytik der Begriffe hat Kant gezeigt, dass die Kategorien das sind, wodurch Objekte sich nach den mentalen Funktionen richten.

Die Erreichung dieses ersten Teilziels versetzt uns nun in die Lage, eine wichtige Schlussfolgerung bezüglich des Problems der Gültigkeit von Erkenntnissen zu ziehen. Worin besteht die Wahrheit (Bestätigung oder Verwerfung) der Gegenstände unserer Erfahrung (d.h., dass diese Objekte nicht falsch, keine Illusionen seien)?

Kants Auffassung von empirischer Wahrheit ist, dass sie von den Folgen der betroffenen Objekten und Begriffen abhängig sei: "In jedem Erkenntnisse eines Objekts ist ... Wahrheit in Ansehung der Folgen. Je mehr wahre Folgen aus einem gegebenen Begriffe, desto mehr Zeichen seiner objektiven Realität." (B 114). Hier besteht die "objektive Realität" (sich auf den Gegenstand beziehen - B 195) der Begriffe in ihrer Anwendung auf das Material das von der Sinnlichkeit geliefert wird (B 150-1) aus der sich dann die Konstitution der Erfahrungsgegenstände ergibt.

Wann aber sind Folgen solcher Objekte und Begriffe wahr ? Mit anderen Worten, worin könnte ein hinreichendes Kriterium empirischer Wahrheit liegen ? Im Einklang mit der Konzeption des Gegenstandes als konsistente und kohärente Einheit (Prinzip 7), behauptet Kant, dass der "zusammenhängende Verstandesgebrauch" ein "zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit" ist (B 679).

Demzufolge wird ein Begriff eine mehr oder weniger ausgeprägte objektive Gültigkeit haben, je nach seiner mehr oder weniger ausgedehnten Viabilität (die grössere oder geringere Anzahl kohärenter Folgen die von ihm abgeleitet sind).

Dies führt zum Problem der Bestimmung dieser Viabilität. Mit dem Nachweis, dass die Kategorien das sind, wodurch die Objekte sich nach den mentalen Funktionen richten, wird die Lösung einfach: da die Kategorien "die formale Einheit der Erfahrung" (A 125) implementieren und "die Gründe der Möglichkeit" sind "ein Objekt in der Erfahrung zu erkennen" (A 125 / 126), folgt dass sie auch "alle objektive Gültigkeit (Wahrheit) der empirischen Erkenntnis möglich machen" (A 125, B 126). In diesem Sinne sind die Kategorien, obwohl subjektive Bedingungen gleichzeitig auch objektiv gültig (A 125-126).

Aus dieser Schlussfolgerung und im Lichte der Kantischen Auffassung von empirischer Wahrheit als Viabilität und Kohärenz der mentalen Tätigkeit sind wir nun in der Lage folgendes Prinzip zu formulieren:

10. Wahrheit als Viabilität. Die Wahrheit unserer Erfahrungsgegenstände (d.h. dass sie nicht falsch seien, keine Illusionen) wird durch die Kategorien begründet und ergibt sich aus der Viabilität der Erfahrung d.h. in der Kohärenz der gegenwärtigen mit den vergangenen und zukünftigen Erfahrungsgegenständen.

Schluss

Die Kognitionstheorie, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt, muss u.a. deshalb ernst genommen werden, weil mit ihr 3 Themen behandelt werden können, die für unsere Kultur von fundamentaler Bedeutung sind:

Ausgehend von einer kurzen Darstellung des interpretatorischen Rahmens und seiner logisch-philosophischen Grundlagen (italienischer Operationalismus und Radikaler Konstruktivismus) wurden hier zehn Prinzipien vorstellen welche den Kern der Kantischen Kognitionstheorie aus konstruktivistischer Sicht beschreiben.

Diese Prinzipien zeigen u.a. daß der Begriff des Objekts derart neu konzipiert werden kann, daß die Annahme wonach im kognitiven Prozeß es die Gegenstände sind welche sich nach den mentalen Funktionen richten nicht mehr abstrus sondern plausibel und viabel wird.

Daraus ergeben sich für die genannten drei fundamentalen Themen folgende vier Konsequenzen:

1. Realität

Die reelle Welt (Realität) liefert das Material, aus dem meine seelische Vermögen (kognitive u. emotionelle) meine Erfahrungswelt (Wirklichkeit) produzieren. Realität ist nicht ein Original, das ich im Akt der Erkenntnis (mehr oder weniger getreu) re-produzieren sollte.

2. Objektivität

In meiner Erfahrungswelt ist nur dasjenige objektiv, was aus meiner Synthese von unbestimmten sinnlichen Modifikationen (Material) und bestimmenden mentalen Operationen (Bedingungen der Möglichkeit) entsteht (= mein objektives Konstrukt).

    3. Rationelle Wahrheit

Mein objektives Konstrukt (Begriff, Erklärung) ist nur insofern wahr, als es sich beim Vergleich mit meinen übrigen objektiven Konstrukten bewährt. Meine Erklärungen können nicht durch Dinge an sich, unabhängig von mir - also universell gültig - validiert werden.

4. Mystische Energie

Das mystische Vermögen in mir (Chaos-Prinzip, Emotionen) liefert mir sowohl die Impulse die mein rationelles Vermögen (Ordnungs-Prinzip) zur Erfindung von Ordnung anregen als auch die Werte (Maturana: 'emotioning') welche meine Wahl zwischen solchen Erfindungen leiten.

 

Anmerkungen

1. M.C. Bettoni, "Cognition, Semantics and Computers," in Computer Models and Technology in Media Research, R.A. Zwaan and D.Meutsch, Eds., Elsevier Science, Amsterdam, 1990, pp. 65-98.
M.C. Bettoni, "A Cybernetic Approach to Kant's Architecture of the Mind," in Akten des 7. Internationalen Kant-Kongress, Mainz 1990, Bouvier, Bonn, 1991, pp. 723-741.
M.C. Bettoni, "Mit Kant fortschreiten in der Künstlichen Intelligenz (1)," Kant Yearbook (Kantovski sbornik, in russian, translation V.N. Bryushinkin), 16, 75-84, (1991).
M.C. Bettoni, "Mit Kant fortschreiten in der Künstlichen Intelligenz (2)," Proceedings Internat. Congress on Engineering Design (ICED 91), V. Hubka, Ed., Heurista, Zürich, 1991, pp. 1249-1254.
M.C. Bettoni, "Kant and the Software Crisis: Suggestions for the construction of human-oriented software systems," Kant Yearbook (Kantovski sbornik, in russian, translation V.N. Bryushinkin), 19, 131-137, (1995) and AI & Society 9, 396-401 (1995).
M.C. Bettoni, "Software Engineering with Kant," Workshop, Laboratoire d'Intelligence Artificielle, Swiss Federal Institute of Technology (EPFL), Lausanne, Switzerland, April 27, 1995.

2. Marco C. Bettoni, Constructivist Foundations of Modeling: A Kantian Perspective, Int. Journal of Intelligent Systems, Volume 12, Number 8, August 1997, pp. 577-595.

3. S. Ceccato and E. Maretti, "Suggestions for Mechanical Translation" in Information Theory, C. Cherry, Ed., Butterworth, London, 1956, pp. 171-180. S. Ceccato, "Principles and Classifications of an Operational Grammar for Mechanical Translation," Information Retrieval and Machine Translation, III, 693-713. Interscience, New York, (1960). S. Ceccato, Ed., Linguistic Analysis and Programming for Mechanical Translation, Gordon & Breach, New York, 1961. S. Ceccato, "A Model of the Mind," Methodos, 16, 3-78, (1964). S. Ceccato, "Concepts for a New Systematics," Information Storage and Retrieval, 3, 193-214, (1967).

4.Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1996, S.135.

5.Ernst von Glasersfeld, 1996, S. 132.

6.Ernst von Glasersfeld, 1996, S. 96.

7.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga, 1781 (A) und 1787 (B), I.Heidemann (Hrsg.), Reclam, Stuttgart, 1966.

8.P.F. Strawson, The Bounds of Sense, Methuen, London, 1966.

9.Es ist nämlich widersprüchlich gleichzeitig zu behaupten, daß die Vorstellung den Gegenstand repräsentiert (also abbildet, nachahmt, kopiert) und daß der Gegenstand sich nach der Vorstellung richtet.

10.Husserl erklärt z.B. in den "Logischen Untersuchungen" oder in der "Philosophie der Mathematik", Kategorien wie "Teil", "Ganz", "Zahl", usw. als ideelle Objekte die unabhängig vom denkenden Subjekt existieren. Er kritisiert zwar unsere natürliche Einstellung zur Welt, in der wir beständig Urteile über das Sein der Gegenstände an sich fällen (Seinsglaube), führt aber dann eine Welt der Wesen ein, in der an und für sich existierende Kategorien (z.B. eben "Teil" und "Ganz") und ihre Gesetze mit der Methode der eidetischen Reduktion (Wesensschau) erfasst werden. Damit will Husserl die Existenz einer Welt der reinen Logik beweisen, deren Gesetze unabhängig von kognitiven Vorgängen gelten (das Absolute).

11.Man beachte hier die Analogie mit H. Dingler, der in seinem Briefwechsel mit Silvio Ceccato Tadel als Lob verkleidet indem er dessen Forschungen als "wertvollen" Beitrag zur Psychologie "anerkennt" ...

12.P. Kitcher, Kant's Transcendental Psychology, Oxford University Press, Oxford, 1990.

13.M. Oberhausen, Das neue Apriori, Frommann-Holzboog, Stuttgart, 1997.

14.M. Oberhausen, 1997, S. 37.

15.R.P. Wolff, Kant's Theory of Mental Activity, Peter Smith, Gloucester, Mass., 1973.

16.I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, W.Weischedel, Werkausgabe, Vol. V, Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1980.

17.Wie Kant selbst erklärt, ist ein Begriff a priori weder eine "uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlage zum Denken" (B 167) noch etwas was von den Empfindungen abstrahiert wird, sondern etwas was wir durch mentales Tun erwerben: "acquisitus est ... ab ipsa mentis actione" (I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Werkausgabe, Vol. V, W. Weischedel, Ed., Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1980).

18.Kitcher 1990, S. 25

19.G.W.Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II., Theorie-Werkausgabe Bd. 6, Suhrkamp 1971.

20.Siehe hierzu auch Lichtenbergs Sudelbücher, L 658, wo bereits das englische Wort "cognition" vorkommt.

21.R.P. Wolff, 1973.

22.siehe dazu G. Böhme, "Die begriffliche Verfasstheit der Wirklichkeit", in: H.R.Fischer, Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 1995.

23.R.P. Wolff, 1973, S. 79.

24.Kitcher, 1990.

25.V.N. Bryushinkin, "Kant's Algorithms for Designing Intellectual Systems," in Akten des 7. Internationalen Kant-Kongress, Bouvier, Bonn, 1991, pp. 743-748.

26.Kitcher, 1990, S. 80.

27.J. Piaget, La construction du réel chez l'enfant , Delachaux et Niestlé, Neuchâtel, 1937.

28.diese können dann als universell (streng allgemein und notwendig) betrachtet werden, wenn "die Existenz" jenes Etwas "durch die Möglichkeit selbst gegeben ist" (B 111) so dass sie beliebig frei anwendbar sind.